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Äh, Eiffelturm oder was?



Nein, schon richtig gelesen, ‚Elfenbeinturm‘ ist gemeint, wenngleich in einem ganz und gar übertragenen Sinn, der keinem Elefanten zu Leibe rückt und Tierfreunde daher nicht zu empören braucht. Der Elfenbeinturm (franz. ‚tour d’ivoire‘; span. ‚torre de marfil‘; ital. ‚torre d’avorio‘; engl. ‚ivory tower‘; lat. ‚turris eburnea‘) bezeichnet im gängigen Sprachgebrauch wie auch in fachwissenschaftlicher Terminologie einen ideal ersonnenen Rückzugsort; eine Heimstatt eskapistischer Phantasien und wirklichkeitsflüchtiger Phantasten, wie man sie zuhauf auf dem schöngeistigen Feld der Literatur und ebenfalls in den mutmaßlich praxisfernen Gefilden der Literaturwissenschaft vermutet. Doch während in zweitem Fall — in jenem der Literaturwissenschaftler*innen nebst diversen Artverwandten aus den Geistes- und Kunstwissenschaften — die (Selbs-)Verbannung in den Elfenbeinturm meist das vernichtend-mitleidige Urteil gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Überflüssigkeit nach sich zieht, haftet solcher Weltflucht in Kunst und Literatur selbst nicht unbedingt das Stigma der Irrelevanz an. Ganz im Gegenteil: Zuweilen vermögen sich Letztere überhaupt nur in der Abkehr vom Allgemeinen und vom breiten Publikum, in der Einrichtung von Schutzräumen, in welchen die Bezeugung bzw. Bespiegelung der Schönheit einzige Aufgabe ist, zu behaupten. Ästhetizistische Kunst- und Literaturformen jedweder Provenienz und Epoche — vom Manierismus (im 16. Jahrhundert) und vom Rokoko (ca. 1730-1780) über die parnassische Dichtung (Frankreich, ca. 1850-1880) bis zum per se dekadenten Fin de Siècle (um 1900), vom britischen Präraffaeli(ti)smus (ca. 1850-1900) über den Jugendstil im deutschsprachigen Raum (um 1900) bis zum Modernismo (ca. 1880-1910) in Lateinamerika und so fort — haben sich derlei Wehrtürme errichtet, um sich gegen politisch-ideologische oder sozioökonomische Überformungen zu immunisieren.

Stilistische Ausprägungen, spezifische Schreibweisen und implizite Beweggründe sind dabei freilich sehr verschieden. Außer Zweifel steht dennoch, dass man im Laufe des 19. Jahrhunderts besonders oft (literar-)ästhetische Elfenbeintürme erklimmt, um vor einem allgegenwärtigen Modernisierungsdruck Zuflucht zu suchen. Nicht von ungefähr findet sich ein wichtiger Beleg für das heutige Verständnis der erstmals im alttestamentarischen Hohelied (7,5) auftauchenden Raummetapher beim französischen Literaturkritiker und Schriftsteller Charles-Augustin Sainte-Beuve, der in den 1830er Jahren die formvollendete Dichtung eines Alfred de Vigny im abgeschiedenen Reservat eines lyrischen tour d’ivoire verortet. Im 20. Jahrhundert erfährt die Vorstellung hingegen eine Bedeutungserweiterung und gerät beinahe zum Gemeinplatz, zur Katachrese. Mittlerweile wähnt man überall Elfenbeintürme — vorwiegend auf diversen Wissenschaftsfeldern –, die eine vermeintliche vox populi dringend zu verlassen und am besten sogleich einzureißen fordert. Denn mit dem bashing eines vage ‚da oben‘ angesiedelten, bald politischen, bald intellektuellen Establishments gewinnt man heute sogar Wahlen…

(Kurt Hahn)

 

ZUM WEITERLESEN

Joris-Karl Huysmans: À Rebours (erstmals 1884); Claus Victor Bock: Besuch im Elfenbeinturm: Reden, Dokumente, Aufsätze, Würzburg 1990; Steven Shapin: „The Ivory Tower: The History of a Figure of Speech and its Cultural Uses“, in: British Journal of the History of Science 45/1 (2012), 1–27.