Kategorien
Avantgarde Creacionismo Dadaismus Futurismus Kubismus Literaturbegriff Surrealismus Ultraísmo

Auf der Überholspur?

Die militärische Terminologie, der gemäß Avantgarde wörtlich ‚Vorhut‘ (franz. „avant-garde“) heißt, signalisiert es sogleich: Wer Avantgarde sein will, muss sich auf unbekanntes Terrain vorwagen und etwas riskieren, muss Grenzen überwinden und an die Spitze einer Gruppe oder Strömung drängen, kurzum: Sie/er muss vorangehen und dies obendrein offensiv kundtun, ja provokant in Szene setzen. Solche ‚Vorreiterschaft‘ hat in hiesigem Fall der künstlerischen Avantgarde/n in erster Linie eine zeitliche, eine historische Bedeutung. So ist der Avantgarde nichts wichtiger als die Überwindung des sogenannten Alten, des vermeintlich Überkommenen und Traditionellen. Gegen das Etablierte setzt die Avantgarde das Faszinosum der Innovation, die Beschwörung einer radikalen Zeitenwende und die unverbrauchten Kräfte der Jugend, sei es in buchstäblichem oder übertragenem Sinn. Und dennoch ist es verbindendes Schicksal aller Akteure der Avantgarde, dass sie früher oder später selbst in die Jahre kommen und dass sie ihrerseits einem Alterungsprozess zum Opfer fallen. Sie, die einst weit vorne die Ewiggestrigen herausforderten; sie, die Trends und Stile aus der Taufe hoben, finden sich gerade im Erfolgsfall irgendwann — ob sie wollen oder nicht — inmitten des Mainstreams wieder. Millionenfach reproduzierte Dalí- oder Picasso-Kunstkalender bezeugen es. Oder sie geraten gar ins Hintertreffen, weil ihre Ästhetik des Bruchs von maßgeblichen kultur- und sozialgeschichtlichen, politischen oder ideologischen Entwicklungen überholt wird. Nicht von ungefähr beendet die bis dato unvorstellbare Grausamkeit des Zweiten Weltkriegs und der Shoah die Konjunktur der internationalen Avantgarden zu Beginn des 20. Jahrhunderts.

Aber zurück auf Anfang: Um in einem gegebenen Kontext wie beispielsweise im literarischen Feld einer Epoche für avantgardistisch zu gelten, ist es unerlässlich, möglichst impulsiv, (scheinbar) spontan und — mit einem heute kursierenden Begriff — geradezu ‚disruptiv‘ zu agieren. Bestehende Ansichten zu attackieren und spektakulär hinwegzufegen, um die eigenen, explosiv neuen Positionen und Praktiken durchzusetzen, erweist sich demnach als Anliegen aller, die sich der Avantgarde verschrieben haben. Ebendarum war es auch den Bewegungen zu tun, die mittlerweile als ‚historische‘ oder ‚klassische Avantgarden‘ bezeichnet werden. Unter ihnen, deren Blütezeit durchweg zwischen 1910 und 1940 fällt, rangieren die berühmten ‚Ismen‘; das heißt der Futurismus (Zentrum: Italien/Paris) und Expressionismus (Zentrum: Deutschland) genauso wie der Dadaismus (Zentrum: Schweiz) und der Surrealismus (Zentrum: Frankreich [Paris]). Ferner existieren in Europa und darüber hinaus weniger bekannte Spielarten; in den spanischsprachigen Literaturen etwa der Ultraísmo und der Creacionismo, sowohl in den hispano- als auch frankophonen Literaturen der Negrismo, bzw. die Négritude, in der brasilianischen Literatur der Antropofagismo und in der rumänischen Literatur Contimporanul. Im Bereich der darstellenden Künste wären zusätzlich der Kubismus, der Konstruktivismus und etliche weitere Ausprägungen zu nennen.

Obschon Programme, (literar-)ästhetische Verfahrensweisen, gesellschaftliche Intentionen und ideologische/ideologiekritische Ausrichtungen im Einzelnen erheblich differieren mögen, lassen sich doch gemeinsame Kriterien ausmachen, die den Avantgarden des angehenden 20. Jahrhunderts und wohl avantgardistischer Kunst überhaupt eigen sind. Darunter finden sich unter anderem:

  • Theoretisch-programmatische (Selbst-)Positionierungen in Manifesten;
  • Manifestation, Aktion und Vorrang des Performativen (bis zum Happening);
  • (Inszenierte) Spontaneität und Unmittelbarkeit;
  • Erkundung neuer Seins- und Wirklichkeitsbereiche (siehe das surrealistische Interesse am Unbewussten, Traum und Wahnsinn);
  • Abrechnung mit einem akademischen, bürgerlichen oder kommerziellen Kunstverständnis;
  • Ästhetik der Provokation und des Schocks;
  • Relativierung der Grenze zwischen Kunst und Lebenswelt, zwischen Fiktion und Faktizität;
  • Mediensensibilität und inter- bzw. transmediale Experimente;
  • Kunst als Prozess und unabschließbares Projekt;
  • Internationalität und Kosmopolitismus;
  • Problematik des Politischen (an der viele Avantgardebewegungen zerbrechen);
  • Gruppenbildung und kollektive Schaffensprozesse.

(Kurt Hahn)

ZUM WEITERLESEN

Peter Bürger: Theorie der Avantgarde [1974], Göttingen 2017; Hubert van den Berg / Walter Fähnders (Hg.): Metzler-Lexikon Avantgarde, Stuttgart u.a. 2009; Wolfgang Asholt / Walter Fähnders: Manifeste und Proklamationen der europäischen Avantgarde, Stuttgart/Weimar 1995; Martina Bengert / Lars Schneider: Les espaces des avant-gardes: topographies urbaines de Paris et de sa banlieue [= Revue des Sciences humaines 336], 2019.