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Aufklärung Empfindsamkeit Idealismus Klassik Literaturbegriff Romantik Sturm und Drang Subjekt

Tiefste Innerlichkeit oder spektakuläre Außenwirkung?

Auf der Epochenschwelle um 1800 etabliert sich eine Gefühlsdisposition, wenn man so will: eine Leidenschaft, die nicht nur eine globale Strömung der Ideen- und Kultur-, Kunst- und Literaturgeschichte hervorbringen sondern in die DNA abendländischer Weltwahrnehmung eingehen wird: Das Lexem ‚romantisch‘ hat seitdem kaum noch etwas mit seiner aus den ‚romanischen Volkssprachen stammenden‘ Etymologie zu tun. Vielmehr bezeichnet es fortan — so wie es schon bei J.-J. Rousseau Verwendung fand — eine sehnsuchtsvolle Anschauung der Landschaft, der neben einer dezidiert subjektiven Teilhabe eine begriffsgeschichtlich verbürgte Nähe zur Kunst (nicht zuletzt zum ‚Roman‘) eignet. Ihren Ausgang nimmt die Romantik jedoch nicht in der Romania, sondern in Großbritannien und in Deutschland, wo schon der ‚Sturm und Drang‘ des jungen Goethe und Schiller (ca. 1765-85) und die aufklärerisch komplementäre ‚Empfindsamkeit‘ frühes präromantisches Temperament bezeugen. Die eigentliche Romantik kristallisiert sich sodann um die Jahrhundertwende heraus und ist in Deutschland zunächst mit Figuren wie den Gebrüdern Schlegel, mit Novalis, A. Brentano oder A. Arnim verbunden, denen in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts mehrere Entwicklungsschübe und eine Reihe weiterer klingender Namen nachfolgen. Von dort her sowie freilich aus England — wichtige Stimmen wären hier W. Blake, W. Wordsworth, S.T. Coleridge, später dann J. Keats, P.B. Shelley, Lord Byron, ferner der Schotte W. Scott — gelangt die Romantik auf verschiedenem Weg in die romanischsprachigen Länder, wobei mit Mme Staël, A. de Lamartine, A. de Vigny, A. de Musset und allen voran V. Hugo zumindest maßgebliche französische VertreterInnen genannt seien.

Ungeachtet mannigfacher regionaler und politischer, soziokultureller und auch religiöser Spezifika ist sämtlichen Ausprägungen der Romantik gemein, dass sie in Opposition zur vorgängigen Aufklärung und zu klassischen/neoklassizistischen Paradigmen stehen: Allesamt stellen sie den Primat der Vernunft und des harmonischen Formzwangs in Frage, um stattdessen die Unmittelbarkeit des Erfahrenen und Empfundenen zu feiern. Die Romantik schickt sich folglich an, zum einen das Innerste des Menschen — und seien es gänzlich unbewusste Seelenzustände — zu erkunden und gleichzeitig wirkungsästhetisch expressiv mit starken Affekten zu überzeugen. In den Blick geraten damit sowohl das Verhältnis zwischen Individuum und Natur, deren Stimmungen einander idealiter entsprechen, als auch die Vorstellung eines allein aus sich schöpfenden Genies. Ferner faszinieren die Verklärung einer einzigartigen, oftmals zur Religion erhobenen Liebe, sodann die thematische Ausrichtung am jeweils Typischen (‚Lokalkolorit‘) sowie schließlich die Wiederentdeckung bis dato verborgener Epochen (z.B. das Mittelalter), unbekannter Regionen (z.B. der Orient) oder vergessener Heldinnen und Helden.

Aufs Ganze der Jahrzehnte zwischen 1800 und 1850 betrachtet, scheidet sich der umfassende Anspruch romantischer Literatur („progressive Universalpoesie“, F. Schlegel) allerdings in zwei vermeintlich konträre Tendenzen: Geht es vielen Texten darum, in neuartiger Introspektion intimste Gefühle und Ängste, Phantasien und Phantasmen, euphorische und melancholische Psychogramme zu beleuchten, ist es anderen darum zu tun, effektvoll weltanschauliche Statements zu kommunizieren, emphatisch politische Haltungen kundzutun oder ein gesellschaftsrelevantes Engagement zu signalisieren. Wie etwa das Beispiel des großen Victor Hugo demonstriert, können beide Orientierungen in ein und demselben Œuvre zueinanderfinden. Nicht zuletzt gilt es die Langlebigkeit der Romantik zu betonen, die in separaten Auffassungen (z.B. in ihrem Liebesideal) mitunter bis heute fortwirkt und an der sich noch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert die literarischen Pioniere der Moderne wie ein Charles Baudelaire abarbeiten, gewissermaßen ‚ab-schreiben‘.

(Kurt Hahn)

ZUM WEITERLESEN

M. H. Abrams: Spiegel und Lampe: Romantische Theorie und die Tradition der Kritik [1953], München 1978; Karl Maurer / Winfried Wehle (Hg.): Romantik. Aufbruch zur Moderne, München 1991; Helmut Schanze (Hrsg.): Romantik-Handbuch, Stuttgart ²2003; Winfried Engler: Die französische Romantik, Tübingen 2003.