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Ist DADA nur Blabla?

Europa Anfang des 20. Jahrhunderts: Während der Erste Weltkrieg tobt und die dunkle Kehrseite von Fortschritt, Technologie und Moderne in Form von Giftgas, Flammenwerfern und Panzern millionenfachen Tod auf den Schlachtfeldern Europas bringt, beginnt eine in der neutralen Schweiz versammelte Gruppierung von Kriegsverweigerern und Pazifisten die Funktion von Sprache und Sinn zu hinterfragen und künstlerisch zu (zer-)stören. Die Rede ist von der internationalen Bewegung DADA — sie bestand hauptsächlich aus Deutschen, Franzosen und Rumänen –, die sich 1916 in Zürich formierte. ‚DADA‘ bedeutet in kindersprachlichem Französisch so viel wie Steckenpferdchen. Allein der Name belegt die dadaistische Abneigung gegen hochtrabende Eloquenz und gelehrte Kunstauffassungen. Der Dadaismus zielte mithin auf eine radikale Überschreitung der geltenden Normen, welche die hohle Rhetorik eines aus ihrer Sicht amoralischen Zeitalters verbrämte. Schließlich hatten Sprache, Sinnstiftung, Religion, Nationalismus, sozialer Konsens und nicht zuletzt die Aufklärung die Menschheit in einen sinnlosen Weltkrieg und eine enorme Verschwendung von Menschenleben und Ressourcen gestürzt. Die Dadaisten eröffneten in der Züricher Innenstadt ein Lokal namens „Cabaret Voltaire“ und versuchten ihr Publikum mit Veranstaltungen, Ausstellungen und neuartigen Performances zu verunsichern und herauszufordern. Dabei wurden sämtliche Prinzipien des sog. guten Geschmacks negiert, der Vernunft jeglicher Erkenntniswert abgesprochen und stattdessen die spontane Inkohärenz des puren simplen Lebens gefeiert. Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs entstehen DADA-Zentren in verschiedenen Städten der Welt, etwa in Berlin, Köln und Hannover, aber auch in Amsterdam, Barcelona, New York und Paris. Dabei praktiziert der Dadaismus eine transmediale Engführung und Verbindung der Künste, die bereits in der Züricher Anfangsphase Manifeste, Inszenierungen und Vernissagen als Markenzeichen der Bewegung ausweisen. Später führt man das beispielsweise in Paris in Form von Zeitschriften fort, die Elemente der bildenden Kunst mit literarischer Sprachkunst verquicken.

Ein — für das kunstbeflissene bürgerliche Publikum schwer akzeptierbarer — Grundsatz der Dadaisten lautet zugespitzt: Die alte Welt ist ein für allemal kaputt, sie hat sich derart in die falsche Richtung entwickelt, dass man nichts Positives mehr äußern kann. Das Einzige, was man noch tun kann, ist alles zu verneinen. Hierbei muss man konsequenterweise noch die Verneinung gegen sich selbst wenden. Dementsprechend finden sich in vielen DADA-Manifesten Sätze wie diese: Allein gegen dieses Manifest zu sein, bedeutet wahrhaft Dadaist zu sein. Oder aber: Ein echter Dadaist muss gegen sich selbst sein. DADA-Texte heben sich also nicht selten in ihren eigenen Forderungen und als Ganze selbst auf. Deutlich wird dies etwa im ersten Manifest von Hugo Ball (1886-1927), worin es unter anderem heißt:

„Wie erlangt man die ewige Seligkeit? Indem man DADA sagt. Wie wird man berühmt? Indem man DADA sagt. Mit edlem Gestus und mit feinem Anstand. Bis zum Irrsinn. Bis zur Bewußtlosigkeit. Wie kann man alles Journalige, Aalige, alles Nette und Adrette, Bornierte, Vermoralisierte, Europäisierte, Enervierte, abtun? Indem man DADA sagt. DADA ist die Weltseele, DADA ist der Clou. DADA ist die beste Lilienmilchseife der Welt. DADA Herr Rubiner, DADA Herr Korrodi. DADA Herr Anastasius Lilienstein.

Das heißt auf Deutsch: Die Gastfreundschaft der Schweiz ist über alles zu schätzen. Und im Ästhetischen kommt es auf die Qualität an.

Ich lese Verse, die nichts weniger vorhaben als: auf die konventionelle Sprache zu verzichten, ad acta zu legen. DADA Johann Fuchsgang Goethe. DADA Stendhal. DADA Dalai Lama, Buddha, Bibel und Nietzsche. DADA m’DADA. DADA mhm DADA da. Auf die Verbindung kommt es an, und daß sie vorher ein bißchen unterbrochen wird. Ich will keine Worte, die andere erfunden haben. Alle Worte haben andre erfunden. Ich will meinen eigenen Unfug, meinen eigenen Rhythmus und Vokale und Konsonanten dazu, die ihm entsprechen, die von mir selbst sind. Wenn diese Schwingung sieben Ellen lang ist, will ich füglich Worte dazu, die sieben Ellen lang sind. Die Worte des Herrn Schulze haben nur zweieinhalb Zentimeter.“

https://www.textlog.de/6750.html

Im hier zitierten Ausschnitt aus Hugo Balls „Eröffnungs-Manifest“, entstanden für den ersten DADA-Abend im Züricher Cabaret Voltaire am 14. Juli 1916, offenbart sich zum einen, dass DADA einen dezidiert avantgardistischen Anspruch auf eigenständige Innovation verfolgt, die satirischen Verweise auf den literarischen Kanon aber zugleich mit allerlei sprachspielerischen Irr- und Unsinn konterkariert. Zum anderen wird sicht- und hörbar, dass der Name oder Slogan ‚DADA‘ auch wegen seiner lautlichen Qualität geschätzt und verwendet wird, wobei die Inszenierung kindlicher Naivität rhetorische und emotionale Wirkung entfaltet. Die Antwort auf die eingangs gestellte Frage lautet also: Ja, DADA ist Blabla, aber dieses Blabla erfüllt sowohl poetisch als auch innerhalb des literarisch-kulturellen Feldes und auf dem politischen Terrain der 1910er/20er Jahre eine maßgebliche Funktion: Sie versteht sich als pazifistische, genuin antimilitaristische Problematisierung sämtlicher (Fehl-)Entwicklungen der Zeit.

Im Austausch mit Hugo Ball in Zürich sowie später mit den Pariser Surrealisten befand sich auch ein weiterer Vertreter, der aus Rumänien stammende Künstler Tristan Tzara (1896-1963), der mit bürgerlichem Namen Samuel Rosenstock hieß. Zwischen 1916 und 1920 spielte er eine zentrale Rolle als Wortführer und Integrationsfigur der dadaistischen Bewegung. Am markantesten zum Ausdruck kommt dies in seinem „Manifeste DADA 1918″, das im Rahmen eines Happenings am 23. Juli desselben Jahres im Züricher „Zunfthaus in der Meise“ verlesen wurde und sodann in der Revue DADA 3 erschien. Es handelt sich hierbei um ein hoch polemisches Projekt, um eine Proklamation, die gegen alles Einspruch erhebt und höchstens eines gelten lässt:

Je proclame l’opposition de toutes les facultés cosmiques à cette blennorragie d’un soleil putride sorti des usines de la pensée philosophique, la lutte acharnée, avec tous les moyens du dégoût DADAïste. Tout produit du dégoût susceptible de devenir une négation de la famille, est DADA ; proteste aux poings de tout son être en action destructive : DADA ; […] abolition de la mémoire : DADA, abolition de l’archéologie : DADA ; abolition des prophètes : DADA ; abolition du futur : DADA ; croyance absolue indiscutable dans chaque dieu produit immédiat de la spontanéité : DADA ; saut élégant et sans préjudice, d’une harmonie à l’autre sphère ; trajectoire d’une parole jetée comme un disque sonore crie ; […] Liberté : DADA DADA DADA, hurlement des couleurs crispées, entrelacement des contraires et de toutes les contradictions, des grotesques, des inconséquences :

LA VIE.

https://www.monde-diplomatique.fr/mav/151/TZARA/57062

Das Manifest, das mit dem Auftritt des proklamierenden Ichs beginnt, setzt sich in Opposition zu vorherrschenden philosophischen Gedanken, die unweigerlich den dadaistischen Ekel auf den Plan rufen. Freilich artikulieren sich hiermit charakteristische Züge der historischen Avantgarden: der Kampf gegen die bzw. die Abkehr von der Tradition, aber auch die damit einhergehende Provokation und Neuheit. Die Attacke auf den überkommenen Wertekanon bedingt die Negation der Familie ebenso wie die Blasphemie gegen die Propheten und gegen den einen, allmächtigen ewigen Gott. Viel allgemeiner noch polemisiert der Text gegen den Überlebenswillen und den Fortpflanzungsdrang, die der destruktiven Abschaffung der Zukunft zum Opfer fallen. Dazu gesellen sich Provokationen, die sich gegen eine unhinterfragte Erinnerungskultur, gegen Wissens- bzw. Fortschrittsgläubigkeit und gegen vergangenheitsfixierte Disziplinen wie die Archäologie richten. Euphorisch entgegentreten den Insignien der alten Ordnung das kindliche Spiel, der Sprung und der Schrei in die synästhetische Freiheit, in der DADA dennoch auch das ‚Heulen der zusammengekrampften Farben‘ und insbesondere den Inbegriff der grotesken Widersprüche des Lebens vorstellt. Spannend ist in diesem Zusammenhang, dass Tzara am Ende seines Manifests beinahe schon realistisch die Darstellung des Lebens einfordert, wenngleich Leben hier eben nicht die Widerspiegelung äußerlicher, z.B. sozialer Realitäten, sondern die Aufhebung sämtlicher Gewissheiten und Überzeugungen bezeichnet. DADA ist also auch im Sinne dieses Manifests Blabla; dieses Blabla zieht gleichwohl jegliche ästhetische und wissenschaftliche, religiöse und ethische, ja selbst die humanistische und lebensbejahende Position in Zweifel.

(Daniel Graziadei)

ZUM WEITERLESEN

Martin Mittelmeier: DADA. Eine Jahrhundertgeschichte, München 2016; Hermann Korte: Die DADAisten, Reinbek 52007; Hubert van den Berg / Walter Fähnders (Hg.): Metzler-Lexikon Avantgarde, Stuttgart u.a. 2009; Wolfgang Asholt / Walter Fähnders: Manifeste und Proklamationen der europäischen Avantgarde, Stuttgart/Weimar 1995.

Von Daniel Graziadei

Literaturwissenschaftler
Literarischer Übersetzer
Autor