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Hat Dekonstruktion einen Sinn – und wenn ja, wann und wie viele?

Die Dekonstruktion (der Dekonstruktivismus) ist ein antihermeneutisches Verfahren der Lektüre. Sie rangiert unter den Strömungen des Poststrukturalismus und wurde in der Literaturwissenschaft etwa in den Bereichen der feministischen Theorie, der Psychoanalyse oder der Postcolonial Studies rezipiert, angewendet und weiterentwickelt. Diskursbegründer ist zweifelsohne Jacques Derrida, der 1967 mit drei einschlägigen Texten (De la Grammatologie, La voix et le phénomène, L’écriture et la différence) die Dekonstruktion (zunächst) in den philosophischen Diskurs einführt. Allerdings hat Dekonstruktion — insbesondere die Art, wie Derrida schreibt und seine Texte zu lesen sind — weniger mit Philosophie im klassischen Sinne zu tun und trägt vielmehr ausgeprägte literarische Züge. Wie das ‚De-‚ zu bemerken gibt — ‚De-konstruktion‘ ist ein Kofferwort aus Konstruktion und Destruktion — geht es um eine Bewegung gegen etwas, um Relativierung und Verschiebung von Bedeutung; darum, philosophische und literarische Texte gegen den Strich zu lesen, ihre Widersprüche und Paradoxien, ihre bis dahin unhinterfragten Voraussetzungen aufzuzeigen und zu sezieren, eben zu ‚de-konstruieren‘. Dabei geht es nicht um eine abschließende Deutung oder um die Anwesenheit von Sinn und Bedeutung, sondern um deren Aufschub durch die sogenannte différance — ein neologistisches Kunstwort Derridas, dessen Unterschiedenheit von différence nicht hörbar, aber doch lesbar ist.

Von Platon über Rousseau bis Hegel und darüber hinaus liest Derrida philosophisch (und literarisch) einschlägige Texte, um darin das universelle System des Logozentrismus freizulegen und Strukturen binärer, hegemonial organisierter semantischer Basisoppositionen zu beschreiben: Privilegiert wird, so Derrida, in der überkommenen Metaphysik Anwesenheit vor Abwesenheit, eigentliches Sein vor uneigentlichem Schein, intelligibler Sinn vor sinnlicher Materialität, der eine (vermeintlich transzendentale) Signifikat vor der Vielfalt der Signifikanten, die Stimme vor der Schrift. Letzteres ist als Phonozentrismus zu präzisieren; als Hegemonie der Stimme, der gewöhnlich eine größere Nähe zum Ursprung des Seins und der Wahrheit zugesprochen wird, wohingegen der Schrift ein größerer Abstand davon attestiert wird. In solcher Lesart — gegen die Derridas Dekonstruktion antritt — wäre die Schrift doppelt vom Ursprung der Bedeutung (dem Bewusstsein) abgefallen; sie wäre der Signifikant eines Signifikanten (der Stimme, des Lauts, der phonè), der allererst das eigentlich Gemeinte repräsentiert.

Dekonstruktive Lektüren sind darum bemüht, die Voraussetzungen dieser Hierarchie(n) in Texten zu hinterfragen, zu verschieben und umzukontextualisieren. Ziel kann es hierbei nicht einfach sein, Hierarchien umzukehren und etwa anstelle der Stimme die Schrift zu privilegieren; vielmehr gälte es, diese Opposition(en) in der Lektüre subversiv zu zersetzen und gänzlich neu zu perspektivieren.

(Gregor Specht)

ZUM WEITERLESEN

Jacques Derrida: De la Grammatologie, Paris 1967; Jacques Derrida: „La différance“, in: Marges de la philosphie, Paris 1972, 1-29; Jonathan Culler: Dekonstruktion. Derrida und die poststrukturalistische Literaturtheorie, Reinbek bei Hamburg ²1999; Sarah Kofman: Derrida lesen, Wien 2000.